«Wenn du ein Training absolvierst, ohne deine Trainingsdaten aufzuzeichnen, hat es dann überhaupt stattgefunden?» Eine Frage, die den Trägerinnen und Trägern von Sportuhren oft mit zynischem Unterton gestellt wird. Die Frage ist viel tiefgründiger, als sie gewöhnlich mit einem müden Lächeln beantwortet wird. Die Frage entstammt dem philosophischen Diskurs darüber, wie wirklich die Wirklichkeit ist. «Wenn im Wald ein Baum umfällt und niemand hört es, macht er dann ein Geräusch?» Dahinter steht die Frage, ob wir überhaupt objektive Aussagen über die Welt und ihre Ereignisse machen können oder ob wir uns immer im Rahmen unserer subjektiven Wahrnehmungs- und Denkmuster bewegen.
Der Griff an die Uhr, um die Aufzeichnung der Aktivität am Ende meiner Trainingseinheit zu stoppen, gehört ebenso zur Routine wie das Zähneputzen vor dem Schlafengehen. Sofort werden mir Zahlen, Graphen und Abbildungen über die absolvierte Trainingseinheit geliefert. Wie schnell war ich unterwegs? Wie viele Pausen habe ich benötigt? Wie hoch war mein Puls? Bevor ich mir einen Überblick über diese objektiven Werte verschaffen kann, sagt mir meine Uhr bereits, wie diese Trainingsleistung im Vergleich zu meinen bisherigen Trainingsleistungen zu bewerten ist. Auf der Grundlage dieser Daten schätzt sie meinen Trainingszustand ein, berechnet die Zeit, die ich für meinen nächsten Wettkampf benötige, und gibt mir vor, wie lange ich mich erholen muss. Mit anderen Worten: Meine Uhr weiß mehr über meinen Körper und mich als ich.
Aber ist das wirklich so? Ist das Fazit einer absolvierten Trainingseinheit nicht viel mehr als die objektiv gemessenen Daten? Meine Uhr fragt mich sogar nach meiner persönlichen Einschätzung der Intensität der Einheit und lässt mich bewerten, wie ich mich dabei gefühlt habe. Aber meine subjektive Wahrnehmung der Trainingseinheit wird dadurch nicht annähernd erfasst. Vielleicht sind meine Skier gut gewachsen und ich bin ständig am Überholen, was sich sehr positiv auf mein Körpergefühl auswirkt und mich stark und fit fühlen lässt. Ich würde dies als erfolgreiches Training für mich abspeichern und einen Fortschritt in meinem Trainingszustand verbuchen, wenn mich meine Uhr nicht anschliessend darauf aufmerksam machen würde, dass mein Puls für ein Grundlagentraining eigentlich zu hoch ist und dies auf eine reduzierte Fitness zurückzuführen ist. Würde ich mehr auf meine Uhr als auf meinen Körper hören, hätte ich den Sport schon längst aufgegeben. So teilt sie mir seit der Geburt meiner Tochter jeden Morgen mit, dass meine Trainingsbereitschaft gering ist, weil sie sich nicht vorstellen kann, dass man trotz Schlafunterbrechungen noch Energie verspüren kann. Auf der Basis meines Trainings sagt mir meine Uhr Laufzeiten voraus, die ich im Wettkampf bei weitem unterbieten würde, weil meine Uhr meinen Kampfgeist nicht erfassen kann und nicht weiss, wie sehr mich die Konkurrenz antreibt. Obwohl ich nach jahrelangem Training für die Ratschläge meiner Uhr oft nur ein müdes Lächeln übrig habe und mir denke, dass ich meinen Körper viel besser kenne als meine Uhr, ertappe ich mich fast täglich dabei, wie ich morgens kurz meine Schlafdaten checke, um meinen Schlaf zu beurteilen, oder wie ich meinen Erholungszustand überprüfe, um sicher zu gehen, dass ich genügend Energie habe. Es ist eben einfacher, sich auf Zahlen und Grafiken zu verlassen, als auf seinen Körper zu hören und den Signalen zu vertrauen, die man wahrnimmt.
Es ist eine grosse Genugtuung, seine Trainingsleistung nicht nur als Erinnerung, sondern auch auf irgendeinem Dashboard abspeichern zu können und sich mit virtuellen Auszeichnungen zu belohnen. Wenn man sich aber einmal fragt, ob man ein Training machen soll oder nicht, weil die Batterie der Uhr leer ist, dann ist es höchste Zeit, die Uhr für eine Weile wegzulegen und sich wieder auf die gefühlte Atemfrequenz, das Brennen in den Beinen und die gefühlte Energie und Lust auf das Training zu konzentrieren. Wir sollten uns darin üben, unabhängig vom Datenzirkus die Freude an der Bewegung zu spüren.
Nicole Besse (geb. 1990) ist Dr. phil. Psychologin und (FSP) Psychotherapeutin, aktive Sportlerin und Mutter einer kleinen Tochter. Dank ihrer beruflichen Kompetenz und ihren beeindruckenden Leistungen bei unterschiedlichen Wettkämpfen kennt sie die Höhen und Tiefen, die wir alle immer wieder selber erleben. Exklusiv in unserem Magazin schreibt die sympathische Prättigauerin regelmässig spannende Artikel über Sport, Motivation und mentale Stärke!
Sportliche Erfolge
- 4. Rang Ironman Thun 2021
- 4. Rang (Kategorie) / 85. Rang (Overall) Engadin Skimarathon 2017
- Besteigung des Matterhorns
- Teilnahme an vielen Marathons, u.a. München und Lausanne