Habt ihr euch schon einmal dabei ertappt, wie ihr versucht habt, eine unangenehme Situation mit Zählen einfacher zu überstehen?
Ich mache das vor allem in den letzten Sekunden der Intervalle beim Training. Wenn die Lunge brennt, die Beine schmerzen, der Kreislauf die ersten Warnsignale gibt und alles in mir hofft, dass die Belastung bald vorbei ist, fange ich an von 10 rückwärts zu zählen. Unabhängig davon, wie lange ich die körperliche Anstrengung noch aushalten muss, kommt in der Regel direkt nach der «1» die ersehnte Pause. Das muss wohl bedeuten, dass ich diese zehn Ziffern manchmal auf 30 Sekunden ausdehne oder eher im Sekundentakt durchlaufe. Offenbar kann mein Gehirn bei den Intervallen ziemlich genau abschätzen, wie lange der Schmerz noch anhalten wird und in welchem Rhythmus deshalb gezählt werden muss. Das merke ich nicht nur beim Sport, sondern überall, wo man einen unangenehmen Zustand aushalten muss. Für mich ist das zum Beispiel auch in der Sauna der Fall. Wenn ich die Sauna betrete, drehe ich die Sanduhr um und setze mich so hin, dass ich auf die Uhr schaue. Mit der Zeit wird mir die Hitze unangenehm. Mein Körper scheint mit dem Schwitzen nicht hinterherzukommen und meine Augäpfel werden unangenehm heiss. Statt einfach nach draußen zu gehen, beobachte ich die Sanduhr genau und beginne zu zählen. Ähnlich erging es mir kürzlich in einer anderen Situation, in der ich mich sogar beim Zählen ertappte, als ich dringend auf die Toilette musste, diese aber noch besetzt war. Ich wusste zwar nicht, auf welche Zahl ich kommen würde, aber irgendwie hat es mich beruhigt. Anscheinend geht es nicht nur mir so. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Zählen die effektivste Methode ist, um sich von Schmerzen oder anderen unangenehmen Zuständen abzulenken. Das liegt zum einen daran, dass man sich gedanklich auf etwas anderes konzentrieren muss und so von den unangenehmen Reizen und Empfindungen abgelenkt wird. Zum anderen aber auch, weil das Zählen ein Gefühl der Kontrolle vermittelt. Als könnte man beeinflussen, wie lange ein bestimmter Zustand anhält. Man gibt sich einen zeitlichen Rahmen, der dadurch mit allem was er beinhaltet überschaubar wird. Es gibt einem Sicherheit, weil man weiss, dass man es für weitere 10 Ziffern noch aushalten kann und was danach kommt, muss man sich in dem Moment gar nicht vorstellen.
Wenn ihr mich also mal auf der Loipe oder in der Schlange beim Einkaufen antreffen und ich zähle, wundert euch nicht. Ich bin gerade dabei, einen anstrengenden oder unangenehmen Moment erfolgreich zu überstehen.
Nicole Besse (geb. 1990) ist Dr. phil. Psychologin und (FSP) Psychotherapeutin, aktive Sportlerin und Mutter einer kleinen Tochter. Dank ihrer beruflichen Kompetenz und ihren beeindruckenden Leistungen bei unterschiedlichen Wettkämpfen kennt sie die Höhen und Tiefen, die wir alle immer wieder selber erleben. Exklusiv in unserem Magazin schreibt die sympathische Prättigauerin regelmässig spannende Artikel über Sport, Motivation und mentale Stärke!
Sportliche Erfolge
- 4. Rang Ironman Thun 2021
- 4. Rang (Kategorie) / 85. Rang (Overall) Engadin Skimarathon 2017
- Besteigung des Matterhorns
- Teilnahme an vielen Marathons, u.a. München und Lausanne