Jedes Jahr, wenn die Eröffnung der Snowfarming-Loipe in Davos verkündet wird, ist das für mich wie eine ganz persönliche Freudenbotschaft. Als hätte mich jemand mit der Saisoneröffnung vom Warten erlöst, weil mir die Sehnsucht offenbar ins Gesicht geschrieben steht. Sofort entsteht vor meinem inneren Auge das Bild einer bestens präparierten Loipe im tief verschneiten Wald. Nur ich und die Landschaft, ein frischer Wind im Gesicht und das Knistern des Schnees unter den Skiern. Ich kann mir kaum vorstellen, dass es andere Menschen gibt, die eine vergleichbare Vorfreude empfinden.
Die Erkenntnis, dass dem nicht so ist, holt mich jedes Jahr beim ersten Besuch auf der Snowfarming-Loipe ein. Schon von der Flüelastrasse aus sehe ich die Leute, die sich auf und neben der Loipe tummeln. Alles Leute wie ich, denke ich mir. Alle, die es nicht erwarten können, bis genug Schnee vom Himmel fällt, um das Davoser Loipennetz zu eröffnen. Es ist immer schön, wenn man Freuden unter Gleichgesinnten teilt. Es ist, als würde man einem Club von hoch ambitionierten Amateur-Langläufern beitreten. In dieser Gemeinschaft der geteilten Leidenschaft schnalle ich mir die Skier an und sprinte hoch motiviert los. Gerade als ich so richtig im Flow bin, muss ich abrupt abbremsen, weil vor mir jemand deutlich langsamer läuft. Für einen Moment bin ich irritiert, sind wir hier doch alle gleich. Warum sollte jemand, der so motiviert ist wie ich, so langsam laufen? Ich überhole die Person und gerate kurze Zeit später wieder aus dem Rhythmus, denn plötzlich scheint wieder jemand vor mir zum Stillstand gekommen zu sein. Leicht verärgert schwenke ich aus, um die Person zu überholen, als hinter mir ein energisches «ACHTUNG!» ertönt. Anscheinend habe ich jetzt jemanden aus dem Rhythmus gebracht. Jemand, der offensichtlich schneller hätte laufen können als ich. Ich ziehe weiter meine Runden und frage mich, wer all diese Leute sind, die aus der ganzen Schweiz und vielleicht noch weiter hergekommen sind, um bereits Ende Oktober den Schnee unter ihren Skiern zu finden. Wieder klebe ich mit meinen Skispitzen an den Skienden eines anderen. Das Überholen gestaltet sich schwierig, da der Gegenverkehr die Loipe in zwei Hälften teilt. Endlich wage ich einen Angriff und überhole mit einem kraftvollen, asymmetrischen Laufschritt. Meine Lungenflügel weiten sich, mein Herz pumpt, es ist ein gutes Gefühl zu überholen. Doch was ist los? Kaum bin ich vorne, spüre ich, wie die Person von hinten wieder Druck macht. Sie ist mir wortwörtlich auf den Fersen. Habe ich jetzt bei dieser Person den Wettkampfgeist geweckt? Oder bin ich nach meinem Kraftakt einfach aus Müdigkeit langsamer geworden? Das sind Fragen, die immer unbeantwortet bleiben, weil man sie nur denkt und nie laut ausspricht. Stattdessen versucht man, sich keine Blösse zu geben und zieht vorne weg. Nachlassen und den Angreifer wieder vorbeiziehen lassen, ist keine Option. Frühestens beim nächsten Toi Toi könnte man so tun, als müsse man plötzlich dringend auf die Toilette, aber bis dahin heisst es durchhalten und so tun, als wäre es ein leichtes Spiel.
Ziemlich abgekämpft beende ich meine Trainingseinheit. Es war vielleicht nicht ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Weder war ich allein in der verschneiten Landschaft, noch war überhaupt irgendwo Schnee in der Landschaft. Auf dem Heimweg muss ich über mich und meine unverbesserliche Naivität lachen. Es ist ja erst Ende Oktober. Aber Langlaufen in Davos geht. Und das Gemeinschaftsgefühl bleibt und tut gut. Sind wir nicht alle vernarrte Langlauffreaks, die sich im Spätherbst auf den rund 4 Kilometern übersommertem Schnee treffen?
Ich bin mir sicher, dass wir uns auch nächstes Jahr um diese Zeit mit der gleichen Vorfreude gegenseitig über die Loipe hetzen werden!
Nicole Besse (geb. 1990) ist Dr. phil. Psychologin und (FSP) Psychotherapeutin, aktive Sportlerin und Mutter einer kleinen Tochter. Dank ihrer beruflichen Kompetenz und ihren beeindruckenden Leistungen bei unterschiedlichen Wettkämpfen kennt sie die Höhen und Tiefen, die wir alle immer wieder selber erleben. Exklusiv in unserem Magazin schreibt die sympathische Prättigauerin regelmässig spannende Artikel über Sport, Motivation und mentale Stärke!
Sportliche Erfolge
- 4. Rang Ironman Thun 2021
- 4. Rang (Kategorie) / 85. Rang (Overall) Engadin Skimarathon 2017
- Besteigung des Matterhorns
- Teilnahme an vielen Marathons, u.a. München und Lausanne